Über Clarenville

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Ein Astronaut fliegt auf die Erde zu. Bildwechsel. Ein Ozean mit wogenden Wellen, der Astronaut versinkt mit einer Fontäne. Bildwechsel. Ein Loch gibt den Blick frei auf… nicht sofort Erkennbares – Anschnitte von Gegenständen; ein Draht promeniert herum, irgendwo zwischen Glühbirne und Fischpiktogramm changierend, eine Pfeife, die ein Auge beinhaltet, wabert von links heran und schnappt sich den Draht-Fisch-Wurm. Dann: ein Paar Plastikbeine bewegt sich kraul-schwimmig… uäm.
Elf TV-Geräte übertragen die Bilder, die vor einer Schwarzweiß-Überwachungskamera angeordnet werden, in den ganzen Raum. Das Anordnen übernehmen Hanke und Jost, die konzentriert über einen großen Tisch gebeugt Gegenstände vor die Kamera halten, vor ihr her und zu ihr hin schwenken und in großem Bogen wieder entfernen, Figuren spielen und mittles einer alten Telefonwählscheibe passende Musiktitel zu den gestellten Bildern im wahrsten Sinne des Wortes aus-wählen. Die Musik vermittelt sofort Emotion: Das ist aber traurig, das ist aber unterwegs, das ist aber beschwingt; und auch ganz unzynisch so gemeint!
Besonders  wird es, als eine große TV-Kamera uneingeladen aus dem Zuschauerraum auf die Bildwerkstatt zutritt, ruhend auf der Schulter eines Kameramannes. Sie will das ganze Bildermachen zum Bilde machen, damit das Fernsepublikum am nächsten Tag (?) dokumentiert sieht, wie Clarenville am Mittwoch den 18.09.2013 das Festival „Wunder der Prärie“ mit eröffnet hat. Die Maschinerie des Bilderzeugens vervielfältigt sich so ungeplant aber wirkungsvoll und bringt auf den Punkt, um was es im Universum von Clarenville auch geht: die Sichtbarmachung des Vorgangs, wie die Bilder, die sich schließlich so gut gerahmt im Monitor präsentieren, überhaupt in ihre Rahmung hineinkommen, und wie anders die abgebildeten Gegenstände ohne Bild unter Umständen aussehen.
Dafür zitieren Hanke und Jost typische Motive der Stummfilmästhetik; grundlegend bedingt durch die Beschränkung der Kamera auf Schwarz-Weiß-Bilder lassen sie diese alte Ästhetik wieder aufleben, die auch für die Augen erkennbar ist, die die Originale nicht kennen. Es fliegen Zwischentitel ins Bild mit der die Geschichte vorantreibenden Information „Zur gleichen Zeit ganz woanders“, es werden sprechend-stumme Bilder erschaffen und mit Musik übergossen. So treffen sich etwa zwei bizarre Figuren in einem Zugabteil, der Astronaut vom Beginn pflückt Stecknadelblumen auf einer vermeintlichen Wiese, die sich als Rücken eines sich gestört fühlenden Frettchens erweist, welches sich hernach als virtuos am Flügel präsentiert. Ein Schiff reist im Kreis (auf einem Plattenspieler) oder traurig schaut die eine Zugfigur auf seinen Freund – oder seine Freundin? -, der/die von irgendeinem undefinierbaren aber großen Gegenstand erschlagen worden zu sein scheint. Die Musik rührt zu Tränen, wie eine Zuschauerin nach dem Ende verrät und sich damit explizit für das Erlebte bedankt.
Die „95 Lessons“, welche der Untertitel des Films zu Anfang für Clarenville verspricht („Ninety-five Lessons in Clarenville, Maßstab 1:140,79. Combinig Form, Study, Skill and … Movement … Published by C.W. Jones, 224 Main St., Brockton, Mass.“), weisen schon zu Beginn auf gefundenes Material hin: dem Titel eines Kalligraphiehandbuchs entnommen. So auch Clarenville, der kanadische Ort an der Westküste Neufundlands, von dem aus das transatlantische Telefonkabel TAT-1 (1978 deaktiviert) in den Ozean einsteigt, um im schottischen Oban wieder aufzutauchen. Tele-Kommunikation und Fundstücke; zwei zentrale Zutaten, die die Logik des clarenvilleschen Universums begründen. Und darum geht es, die Narration einer unter Umständen fremd, merkwürdig erscheinenden Logik, die sich herstellt, hergestellt wird und sich dabei im Fernseher zeigt; wie fremdes TV durchzappen, Geschichten daraus basteln, oder mehr noch eine Sendung mit Eigenlogik, ein eigenwilliger Ort, eine selbst funktionierende Welt.
Interessanterweise setzt sich diese andere Welt aus Versatzstücken der einen zusammen; Stücke, die nicht gesucht, aber gefunden werden können. Zwar gibt es Ausschlusskriterien, bzw. Kriterien, die die Eignung begründen (Strukturen, die in Schwarzweiß noch interessant aussehen; Objekte, die dem Fokus einer Maßstabsverschiebung standhalten), dennoch erfolgte das Wühlen auf Flohmärkten nicht zielgerichtet in der Entstehungsphase der Produktion. Folgerichtig und ursprünglich ist daher auch das „Herz“ Clarenvilles, die Kamera, ein Fundstück. Die Musik hingegen kommt gleich aus einem dezidierten Ort für Fundstücke: ein Archiv der archetypischen Songs aus den USA der 50er/60er Jahre. Ein Affektarchiv gleichsam – Sad Dying-Scene, Zugmusik, Happy go lucky verheißen schon im Titel, was sie gehört auslösen. So werden sie zum Affektträger in guter Hollywoodfilm-Manier, oder der Manier des live begleiteten Stummfilms – überhaupt, diese filmische Anmutung bei gleichzeitiger Video-/Fernsehtechnik, eine mediale Doppelbelichtung? Für Hanke und Jost nutzt sich besonders der Spaß am ‚Hineingreifen in den Fernseher‘ nicht ab, wobei für sie jeoch eher das Medium Film seine „Gemachtheit“ mit ausstellt – besonders eben alter Film. Film, der nicht vor ,großen Bildern‘ und ebenso großen Gefühlen zurückschreckt, die aber eben durch Miniaturen erzeugt und in der Kameraperspektive ermöglicht werden (Wundermaschine?).
Clarenville wurde in einem etwa sechswöchigen Arbeitsprozess des intensiven Bilderfindens und -ausprobierens, des Bauens und Sich-gegenseitig-Zeigens entwickelt. Die 60-Minuten-Version entstand als Auftragsarbeit für die Figurentheaterreihe des „Raums für Kultur“ der Commerzbank 2012.

FriedaFritz an Hanke und Jost:
Kommen im Laufe der Zeit, immer wieder neue Figuren und Gegenstände dazu?
– Es handelt sich um ein abgeschlossenes Projekt, aber wir haben Lust auf eine neue Produktion für diese Optik: eine Textinszenierung eines ‚großen‘ Textes (Odyssee, Dantes Komödie, Paradise Lost, Unendl. Geschichte) mit unseren kleinen Materialien.
Die Bilder erinnern an Traumbilder oder haben zumindest eine träumerisch-romantische Ästhetik. Spielen Träume bei der Entwicklung der Geschichten eine Rolle?

– Insofern, als dass Träume andere Wahrnehmungsmodi, andere Logiken beinhalten, ja. Das Wort selbst fiel nicht, aber inhaltlich ist es genau das.
Mögt ihr Hunde?
– Sehr / gleichgültig bis: Hunde gehören auch zu den schönen Dingen.
Labradore oder Neufundländer?
– Nicht spezifisch / beides, bei etwas Angst vor importierten Hunden aus Spanien.
Habt ihr in eurer Kindheit viel mit Puppen gespielt?
– Nein: mit Stofftieren / eher mit Figuren als mit Puppen.
Wann/warum hat das aufgehört? Wann/warum wieder begonnen?
– Es hat nie aufgehört.
Was war das Schlimmste, das ihr euren Puppen angetan habt?
– Im Schuhgeschäft vergessen (kam aber wieder) / keine größeren Schandtaten
Wie hieß die jeweilige Lieblingspuppe?
– Fridolin / keine spezifischen Lieblingssachen
Welche unvorhergesehenen Publikumsinterventionen könnte Clarenville wünschenswerte, neue Einschläge verpassen?
– Eine Gruppe japanischer Touristen betritt den Raum / Szenenapplaus.
Was wäre die schlimmste Reaktion respektive Störung der Performance?
– 30 Kinder, die alle „laaangweilig“ schreien oder auf dem Tisch herumgreifen. / Alle Handys schicken Störfrequenzen in die Fernsehübertragung. / Wenn die Kamera kaputtgeht (kein Ersatz: das wäre der Tod des Stücks).
Eure Lieblingsmomente?
– Die vorbeischwimmenden Füße. / Wenn der Astronaut die Erde am Ende verlässt. / Die Sequenz: Astronaut läuft über die Wiese – Die Lok fährt herein im Zusammenspiel mit der Countrymusik (Einsatz des Gesangs, wenn die Lok durch drei Viertel des Bildes gefahren ist) / Das klavierspielende Frettchen (und wenn dann das Schlüsselloch verschwindet).
Kann man bei Clarenville von Performenden sprechen? Oder wer wären diese in eurer Performance?
– Performer ist ein blödes Wort: eher passt Arbeitskräfte (Handwerk in der Herstellung) und Figuren; evtl. ‚Fürsorger‘ (obwohl das auch ein blödes Wort ist) – ich meine unsere enge Beziehung zu den Figuren, die individuelle Spielweise, eine Zugehörigkeit.
Die dümmste vorstellbare Frage zu Clarenville?
– Könnt ihr die DVD nochmal einlegen?

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